Nicoleta – Mama sein in Rumänien

Eine Stadt, grau in grau. Eine Wohnung in einem dieser grauen, heruntergekommenen Gebäude. Zwei Zimmer, sechs Personen. Hier wohnt Nicoleta (38) mit Mann Nicolae (42) und den vier Kindern. Die Wände hat sie farbig angestrichen. Überhaupt sieht es in ihrer Wohnung fröhlich aus. Was einen wundert. Denn Nicoleta hätte allen Grund, eben nicht fröhlich zu sein. Mama sein in Rumänien ist nicht einfach. Zudem sind zwei ihrer Kinder geistig beeinträchtigt, werden gemobbt. Die familiäre Wohnsituation ist prekär. Der Alltag streng. «Zeit für mich? Gibt es nicht», bringt Nicoleta ihr Mama-Leben in der Fabrikstadt Victoria, Rumänien, auf den Punkt.

Triste Plattenbauten prägen die Stadt. Nicoleta und ihre Familie wohnen in der Zweizimmer-Wohnung, die Nicoletas Vater gehört. | Bilder: Sarah Urech

Es ist nicht so, dass ich immer Kinder haben wollte. Es war nicht mein Traum. Ich sagte immer: Wir werden sehen wie es kommt. Vielleicht heirate ich, vielleicht nicht. Vielleicht bekomme ich Kinder, vielleicht nicht.

Jetzt habe ich alles. Einen Mann. Vier Kinder. 13, 15, 17 und 18 Jahre alt.

Nicoletas vier Kinder: Darius (15), Rames (13), Roxana (18), Andrei (17) | Bild: Sarah Urech

Ob ich glücklich bin? Ich bin dankbar. Ja. Dankbar für meine Familie. Auch glücklich darüber, Kinder zu haben. Und ich bin sehr stolz auf sie alle. Aber es gibt auch immer wieder diese Momente, in denen ich überfordert bin und mich negative Emotionen überwältigen. In denen mir alles zu viel wird. Dass wir zu sechst in zwei Zimmer wohnen. Dass all meine Zeit mit Arbeit gefüllt ist. Vier Kinder, davon zwei, die meine besondere Aufmerksamkeit benötigen. Denn Rares und Roxana haben eine geistige Beeinträchtigung.

Diese sieht man ihnen nicht sofort an. Aber sie sind beide anders als die anderen Kindern. Haben Lernschwierigkeiten und Rares hat zudem ADHS.

Das fordert mich sehr. Sie brauchen sehr viel Aufmerksamkeit. Ausserdem muss man ihnen alles immer und immer wieder erklären. So detailliert wie möglich – sonst verstehen sie nicht, was man von ihnen will. Für mich als Mama bedeutet das, dass ich mich nonstop bemühe, ihre Sprache zu sprechen. Zudem vereinfacht es vieles, wenn ich ihre Bedürfnisse kenne oder erkenne. Das macht mich manchmal so müde und nicht selten verliere ich die Geduld. Zudem ist Roxana immer sehr direkt und sagt, was sie denkt. Egal, ob das jetzt angebracht ist oder nicht. Das bringt mich dann jeweils in sehr unangenehme Situationen.

Auch wollen sich beide immer bewegen. Rares hat viel Energie. Rennt immer herum. Im einen Moment spielt er mit dem Ball, im nächsten schnappt er sich das Trottinett. Roxana will immer irgendwo hin laufen. Und ich? Ich sollte mich am besten aufteilen und überall gleichzeitig sein. Werde keinem meiner Kinder gerecht, das stresst mich.

Die beiden gehen nicht in die öffentliche Schule. Sie besuchen eine Sonderschule. Hier in Rumänien keine einfache Angelegenheit. Das Schulsystem ändert dauernd. Kaum hat man verstanden, wie das neue System funktioniert, läuft wieder alles anders. Jemanden, der uns beraten und unterstützen könnte, haben wir nicht. Wir müssen das irgendwie selbst hinkriegen.

Auch finanziell gibt es vom Staat keine Unterstützung. Früher gab es sowas wie Kindergeld. Da erhielt jede Familie pro Kind etwa 15 Euro pro Monat. Doch das neue Parlament hat diese Unterstützung gestrichen. Jetzt muss jede Familie selber schauen, wie sie zurechtkommt. Wir kommen über die Runden, der Lohn meines Mannes reicht für das Nötigste. Wir konnten uns nun, dank einem Kredit bei der Bank, auch eine Waschmaschine kaufen. Jetzt muss ich die Kleider nicht mehr von Hand waschen. Das ist toll.

Mamas Unplugged-Redaktorin Evelyne Gutknecht im Gespräch mit Nicoleta und der Dolmetscherin über das Mama sein in Rumänien | Bild: Sarah Urech

In der Nacht wird das Wohnzimmer zum Elternschlafzimmer umfunktioniert. Nicoleta und ihr Mann schlafen auf dem Sofa. | Bild: Sarah Urech

Wir leben in Victoria, einer kleinen Stadt mit rund 7000 Einwohnern. Direkt unterhalb der transsilvanischen Alpen. Ich bin praktisch hier aufgewachsen und ich möchte niemals weg von hier. Die Stadt wurde Ende des zweiten Weltkriegs als ‘Industriezentrum’ gegründet. Die Leute zogen hierher, weil eine grosse Chemiefabrik Arbeitsstellen schuf. Doch seit die Fabrik privatisiert ist, haben fast alle Einwohner ihre Arbeit verloren. Ich bin so froh, kann mein Mann arbeiten. Er ist bei der Securitas angestellt. Ich selbst helfe unentgeltlich beim kirchlichen Gemeinschaftszentrum aus, wo ich mittags Essen für die Schulkinder koche. Da können meine Kinder ebenfalls mitessen und kriegen Hilfe bei den Hausaufgaben.

Ansonsten sind sie oft einsam.

Obwohl Rares bereits dreizehn Jahre alt ist, darf er nicht alleine aus dem Haus gehen. Was paradox ist, wenn man um seinen Bewegungsdrang weiss. Doch die anderen Kindern hänseln ihn, lachen ihn aus oder werden sogar gewalttätig. Sie sind auch schon mit der Schere auf ihn los und haben ihm Löcher in die Kleider geschnitten.

Wir versuchen ihn davor zu beschützen. Deshalb gehen wir immer gemeinsam mit ihm nach draussen. Vor uns Erwachsenen haben diese Kinder mehr Respekt, dann trauen sie sich nicht, Rares so zu behandeln. Falls dies doch mal vorkommt, stoppe ich die Kinder. Versuche, mit ihnen zu reden und ihnen zu erklären, dass Rares anders ist. Dass sie mehr Geduld und Verständnis mit ihm haben müssen. Manchmal hilft es. Häufig auch nicht.

Was mir sehr viel Mühe macht ist, dass er in der Sonderschule ebenfalls oft gehänselt wird. Dafür habe ich gar kein Verständnis – dort sind ja alle Kinder irgendwie speziell. Aber auch dort gibt es jene Kinder, die aggressiver sind und die dann auf die passiveren losgehen. Ich bin schon häufig in die Schule gegangen und habe mit den Kindern oder den Lehrern geredet.

Ruhe, sowas kenne ich nicht. Zeit für mich? Gibt es nicht.

Abends, wenn die Kinder im Bett sind, räume ich die Küche auf. Ich habe keine Geschirrwaschmaschine. Ich wasche von Hand ab. Das dauert. Und falls ich mal so etwas wie Freizeit habe, erledige ich Dinge, die sonst zu kurz kommen. Die Wohnung richtig saubermachen, Schränke aufräumen, sowas.

Einfach nichts tun und ein Buch lesen – das kann ich nicht. Dafür habe ich weder die Zeit, noch die Geduld.

Mich mit Freundinnen zum Kaffee treffen, das machen wir hier nicht. Ich jedenfalls nicht. Ich habe eine Freundin, aber wir treffen uns eher zufällig und reden dann zusammen. Wir besuchen uns nicht und trinken zusammen Kaffee. Dafür haben wir keine Zeit. Denn es gibt immer etwas zu tun. Es gibt immer Arbeit.

Auch die Kinder erziehen ist Arbeit. Mir ist wichtig, dass sie gute Menschen sind, dass sie gehorsam und fleissig sind. Sie sollen eine bessere Zukunft haben, als wir. Wir haben unser Bestes gegeben, aber sie sollen es noch besser haben.

Sie sollen einmal alles haben, was sie brauchen. Und es mit ihren eigenen Händen erarbeiten und verdienen. Sie sollen ihr eigenes Haus haben, ihre eigene Wohnung.

Die Wohnung, in der wir leben, gehört meinem Vater. Ich muss ihm nichts dafür bezahlen. Doch jedes Jahr kommt er nach Victoria und wohnt dann bis zu drei Monate bei uns. Das sind immer sehr schwierige Monate. Dann müssen wir noch näher zusammenrücken.

Ausserdem ist er ein sehr schwieriger Mensch. Wir sind alle froh, wenn er wieder geht.

Meine Kinder sollen später eine gute Arbeit haben und sich ein eigenes Haus kaufen können. Das wäre schön, das wünsche ich ihnen. Dann haben sie es einmal besser als wir.

Bilder: Sarah Urech

Mehr zu unserer Reise und warum wir überhaupt in Rumänien waren, findet ihr in diesem Artikel.

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